
Jom Kippur ist kein weiterer Tag im Kalender. Er ist der Höhepunkt einer ganzen Zeitspanne, die vor einem Monat und zehn Tagen mit dem Monat Elul begonnen hat. An Rosch HaSchana wird geschrieben, an Jom Kippur wird besiegelt: בְּרֹאשׁ הַשָּׁנָה יִכָּתֵבוּ, וּבְיוֹם צוֹם כִּפּוּר יֵחָתֵמוּן – „An Rosch HaSchana wird es aufgeschrieben, am Versöhnungstag wird es besiegelt.“ Darum wünschen wir uns vor Rosch HaSchana Ketivah Tovah – „Mögest du zum Guten eingeschrieben sein“, und an Jom Kippur Chatimah Tovah – „Mögest du zum Guten besiegelt sein.“ Heute selbst wünschen wir: Gmar Chatimah Tovah – „Möge die endgültige Besiegelung gut sein.“
Im Zentrum dieser Tage steht die Teshuvah – Umkehr, Rückkehr. Morgen lesen wir Parashat Nitzavim. Dort heißt es: לֹא בַשָּׁמַיִם הִוא… וְלֹא מֵעֵבֶר לַיָּם הִוא… כִּי קָרוֹב אֵלֶיךָ הַדָּבָר מְאֹד (Dtn 30,11–14) – „Das Gebot ist nicht im Himmel und nicht jenseits des Meeres. Es ist dir ganz nahe, in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tun kannst.“ Die Tora sagt: Teshuvah ist nicht fern. Sie ist einfach. Sie ist nah. Es geht darum, den nächsten Schritt zu tun – in unseren Beziehungen zu anderen, zu uns selbst und zu Gott.
Und doch wissen wir: Teshuvah endet nie. Sie ist wie eine mathematische Linie, die sich nähert und nähert, aber nie ganz ankommt. Wir messen uns an göttlichen Maßstäben, die wir nie vollständig erreichen. Darum ist Teshuvah zugleich leicht und schwer, nah und unendlich. Diese Spannung ist fruchtbar – aber auch gefährlich. Sie kann uns zu mehr Tiefe führen, doch sie kann auch in Verzweiflung oder Fanatismus umschlagen.
Die Tradition kennt diese Gefahr. Der Nasir, der „jüdische Mönch“, verzichtet auf Wein und andere Freuden, um heiliger zu sein. Doch am Ende seiner Gelübdezeit muss er ein Sündopfer bringen. Warum? Die Rabbiner erklären: מפני שציער עצמו מן היין – „Weil er sich selbst quälte, indem er auf Wein verzichtete.“ Wer zu heilig sein will, schadet sich – und oft auch anderen. Auch Rambam, Maimonides, beginnt Teshuvah mit dem ersten Schritt: dem Erkennen, was wir falsch gemacht haben. Und wir Juden sind Meister der Kritik – besonders an anderen Juden. Doch wenn Kritik nur ein Mittel wird, um sich selbst heiliger zu fühlen, dann wird Teshuvah zur Waffe. Rabbi Nachman von Bratzlaw sagte: צריך לעשות תשובה על התשובה – „Manchmal muss man sogar für seine Teshuvah Teshuvah tun.“ Auch die heiligsten Impulse können verdorben werden.
Die Tradition warnt uns davor, dass Teshuvah in masochistischen Fanatismus umschlägt – in einen endlosen Kreislauf der Selbstkritik bis hin zur Selbstzerstörung. Das ist auch heute aktuell. Manche kritisieren den Staat Israel nur, um sich gerecht zu fühlen; andere tun es aus Liebe, aus Zugehörigkeit, weil sie wollen, dass wir besser werden. Das ist verständlich – doch es ist leicht, in Fanatismus zu verfallen. Kritik darf nicht zerstören und darf unseren Feinden keine zusätzlichen Waffen geben.
Darum spricht Parashat Nitzavim so stark zu uns. Ja, Teshuvah ist unendlich. Wir werden nie fertig. Aber nein, Teshuvah ist nicht unmöglich. Die Tora sagt: לֹא בַשָּׁמַיִם הִוא – „Sie ist nicht im Himmel.“ Sie ist nicht jenseits des Meeres. Sie ist direkt vor dir. Mach nur den nächsten Schritt – und dann den nächsten. Langsam, treu, Schritt für Schritt – so kann man weit gehen.