
Meine erste Verbindung zu Braunschweig entstand nicht in Deutschland, sondern in Israel.
Ich war Teenager, als meine Cousine an einem Jugendaustausch zwischen Kiryat Tivon und Braunschweig teilnahm. Ich erinnere mich an die Delegation von älteren Jungen und Mädchen aus Braunschweig – In meinem jungen Alter war ich überzeugt, dass Braunschweig eine der wichtigsten Städte in Deutschland sein müsse.
Heute weiß ich: Ich habe mich geirrt. Braunschweig ist nicht nur eine der wichtigsten Städte.Es ist die wichtigste! Und nicht wegen seiner Größe oder Geschichte – sondern weil hier Sie leben, diese Gemeinde, der ich nun als Rabbiner dienen darf.
Mein Titel „Geminderabbiner“ hat nur dann Bedeutung, Wenn es eine Gemeinde gibt, die mich so nennt. Meine Rabbinerrolle lebt durch Sie – durch unser Vertrauen, unsere gemeinsame Arbeit und die Beziehungen, die wir aufbauen.Aber heute geht es nicht um mich. Es geht um diese Gemeinde. Und diese Gemeinde hat es verdient, gefeiert zu werden. In meinen ersten Monaten hier habe ich leider viele Geschichten der Angst gehört: Angst, als Jude erkannt zu werden. Angst, eine Mesusa anzubringen. So gar Angst, Post von jüdischen Organisationen zu bekommen. Wir leben in einer Zeit, in der manche Juden sich noch verstecken – am Arbeitsplatz, in der Schule, manchmal sogar vor Freunden. Niemand sollte sich schämen oder fürchten, Jude zu sein. Nach mehr als 700 Jahren jüdischen Lebens in Braunschweig dürfen wir nicht als etwas Fremdes gesehen werden, sondern als selbstverständlicher Teil des Lebens in Braunschweig. Stolze jüdische Bürger – nicht nur Teil der Geschichte, durch Gedenktafeln und Stolpersteine erinnert, sondern auch Teil der Gegenwart und Zukunft.
Das ist kein Kampf gegen Judenhass. Es ist ein Einsatz für jüdischen Stolz, für Würde und für Sicherheit. Die jüdische Geschichte Braunschweigs ist reich und vielfältig – mit hellen und dunklen Kapiteln. Es gab Zeiten, in denen jüdisches Leben gedeite, und Zeiten, in denen es gewaltsam unterbrochen wurde. Licht und Schatten gehören beide zu unserer Geschichte. Und doch war Braunschweig auch ein Ort der Erneuerung im Judentum. Rabbiner hier waren oft ihrer Zeit voraus: Rabbiner Eger, der erste, der Predigten auf Deutsch hielt. Rabbiner Levi Herzfeld, der die erste Allgemeine Deutsche Rabbinerkonferenz nach Braunschweig brachte. Rabbinerin Bea Wyler, die erste Gemeinderabbinerin in Deutschland. Und Rabbiner Jonah Sievers, dessen Siddur nicht nur hier, sondern in vielen Gemeinden in Deutschland genutzt wird.
Aber die Arbeit ist noch nicht beendet. Wie es in Pirkej Awot (2:16) heißt:
, לֹא עָלֶיךָ הַמְּלָאכָה לִגְמֹר, וְלֹא אַתָּה בֶן חוֹרִין לִבָּטֵל מִמֶּנָּה.
„Es ist nicht deine Aufgabe, das Werk zu vollenden,
aber du bist auch nicht frei, dich ihm zu entziehen.“
Jede Generation übernimmt die Aufgabe, jüdisches Leben zu bauen und zu erhalten. Keiner kann es allein tun – aber jeder von uns kann einen Faden in das Gewebe hineinweben. Und jetzt ist es die Aufgabe unserer Generation. In den vergangenen Jahren ist die jüdische Gemeinde hier zu einer singenden Gemeinde geworden, geprägt durch wunderbare Kantorinnen und kantoren Ich wünsche mir, dass wir unsere Gemeinde auch als Lerngemeinschaft erleben. Meine Hoffnung ist, dass sie nicht nur ein Ort des bedeutungsvollen Gebets, sondern ebenso ein Ort des Lernens ist. wo alle die Möglichkeit haben, unsere Texte, unsere Ideen und unsere Geschichte zu entdecken. Denn wie es in der Mischna und auch in unserem täglichen Frühgebet heißt:
תלמוד תורה כנגד כולם – Das Studium der Tora wiegt so viel wie alle Gebote zusammen
Darum wünsche ich uns eine gemeinsame Zukunft – voller Lernen, Singen, Beten und Bauen.
Die Rabbiner lehren im Midrasch Bereschit Rabba, dass es kein Zufall ist, dass die Tora mit dem Wort Bereschit – „Im Anfang“ – und damit mit dem Buchstaben Bet (ב) beginnt, und nicht mit dem Alef (א), dem ersten Buchstaben des Alphabets. Warum? Weil das Bet auf drei Seiten geschlossen ist, aber auf einer Seite offen. Das lehrt uns: Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können die Zukunft gestalten – offen und nach vorn. Das Bet steht auch für Bracha – den Segen. Ein gesegneter Anfang. Und vielleicht – wenn ich das hinzufügen darf – steht das Bet auch für Braunschweig. Ein guter Ort, um neu zu beginnen.
Möge das jüdische Leben in Braunschweig von Mut, Freude und Segen erfüllt sein.
„Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns Leben und Bestehen gegeben, und uns in diese zeit gelangen lässt.“
ברוך אתה השם אלוהינו מלך העולם, שהחיינו וקיימנו והגיענו לזמן הזה
Braunschweig, 28.08.2025